Die vergessenen Kaninchen

„Gut gemacht, Ebi! Das war ein langer Tag. Jetzt ruhen wir uns aber aus.“ Lokführer Leo klopft Ebi am Ende dieses Tages anerkennend auf’s Armaturenbrett und freut sich auf den Feierabend. Ein letzter Kontrollgang durch den Zug und dann nichts wie heim. Da hört Ebi plötzlich einen erstaunten Aufschrei: „Was ist denn das hier?“, ruft Leo. Nun sieht es Ebi auch. Im Mehrzweckabteil, wo sonst Platz ist für Kinderwagen, Rollstühle oder Fahrräder steht ein großer Holzkasten. Ein Kaninchenstall, meint Leo. Er untersucht den Kasten nach einer Adresse. Wer vergisst denn so etwas? Das rutscht doch nicht einfach aus der Tasche. Leo seufzt. Keine Anschrift, keine Telefonnummer. Jetzt wird es erst einmal nichts mit dem Feierabend. Er muss die Fundsache dem Kundencenter melden und den Stall sicher unterstellen. Bei Ebi kann der auf jeden Fall nicht bleiben, denn gleich kommt die Reinigung, die in den Zügen über Nacht alles blitzblank putzt, damit Lokführer Gabor morgen früh einen glänzend sauberen Ebi übernehmen kann. Auch Stella wartet auf ihre Reinigung und sieht, wie Leo den riesigen Stall aus dem Triebwagen bugsiert. Sie schüttelt den Kopf: „Ebi, man glaubt ja gar nicht, was die Leute alles im Zug vergessen oder liegen lassen. Bei mir haben schon einige ihr Fahrrad stehen gelassen. Das muss man doch merken, oder?“ Ebi kann auch so etliches aufzählen: „Mh, Fahrrad hatte ich auch schon und Schlüsselbunde, Handys, Sport-Rucksäcke, Regenschirme, Jacken, Handschuhe, Tücher und Mützen, Plüschtiere oder Spielzeugautos. So etwas Großes wie dieser Kaninchenstall war bisher  aber noch nicht dabei.“ Stella überlegt, was die kleinen Häschen, jetzt wohl machen, die heute Nacht sicherlich in den schönen neuen Stall einziehen wollten. Ob der Besitzer daran denkt, morgen früh gleich die Nummer des Kundencenters anzurufen und nachzufragen, wo sein Stall geblieben ist? Bloß gut, dass die Fundsachen aus den Zügen sicher und gut aufbewahrt werden.

Am nächsten Morgen erwachen Ebi und Stella davon, dass ein aufgeregter junger Mann am Bahnsteig entlangrennt und von außen in alle Züge hineinschaut. „Suchen Sie was?“, fragt ihn Zugbegleiterin Silvia. „Meinen Kaninchenstall. Ich hab ihn gestern total vergessen. Dabei kommt doch heute meine kleine Maria von der Oma zurück und ich möchte sie damit überraschen.“ Silvia ist informiert. „Im Zug konnte ihn mein Kollege nicht lassen, aber wählen Sie die Nummer unseres Kundencenters, die 0361 74207250. Dort hilft man Ihnen weiter.“

Na, das ist ja noch einmal gut gegangen, denkt Ebi. Aber viele Leute wissen gar nicht mehr, wo sie etwas liegen gelassen haben. Genau ein halbes Jahr werden die Fundsachen eingelagert und aufgehoben. Wenn sich ihre Besitzer bis dahin nicht gemeldet haben, gehen sie zur Fundsachenversteigerung und werden dort weiter verkauft. Die kleine Maria kann sich aber nun doch noch auf ihren Kaninchenstall freuen.

 

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